Ein Nachbericht von Karin Klotzinger,
Stadtmarketing Austria, zur
brandeins Fachkonferenz in Hamburg:
Schwerpunkt I: Was Händler heute erfolgreich machtSchwerpunkt II: Wie man Orte schafft und Bedürfnisse wecktSchwerpunkt III: Wie wir morgen gute Geschäfte machen
Schwerpunkt I: Was Händler heute erfolgreich macht
1. Impulsvortrag: Manuel Jahn, GfK GeomarketingOffline-Online- No LineManuel Jahn (48) leitet den Bereich Consulting bei der
GfK Geomarketing und betreut Handelsunternehmen, Banken und Investoren bei der Konzeption und Optimierung von Immobilien, der Beurteilung von Standorten sowie der Überprüfung der langfristigen Wirtschaftlichkeit von Retail-Investments. Der Bankkaufmann, der nach seiner Lehre Architektur und Stadtplanung studierte, ist Mitglied im Rat der Immobilienweisen und beschäftigte sich viele Jahre mit der Entwicklung und Konzeption von Handelsimmobilien, bevor er 2004 zu GfK wechselte. Durch zahlreiche Standortgutachten und Immobilienberatungen in ganz Europa erwarb er sich eine umfassende Kenntnis der Situation des
Einzelhandels sowie der
Handelsimmobilienwirtschaft.
Manuel Jahn beschreibt, welche Branchen vom
Onlinewachstum besonders betroffen sind und legt dar,
wie sich der stationäre Handel erfolgreich gegenüber Online positionieren kann. Entscheidend sei ein stimmiger und Kundennutzen-orientierter Gesamtmarkenauftritt. Er bescheinigt der Handelsimmobilie, weiterhin wichtigster Baustein einer Multi-Channel-Strategie zu sein. Eine fundierte strategische Standort- und Netzplanung gewinne im komplexen Zusammenspiel aus Online und Offline aber weitere Bedeutung.
Wer wird überleben? Und wie? Das sind die Fragen, die gerade viele Einzelhändler quälen. Die ganz Großen, aber auch die Kleinen.In den Medien wird dargestellt, dass vielen Altstädten der ökonomische Tod droht. Die Frequenzen gehen zurück! Deutschland/Österreich/USA
- Trostlosigkeit herrscht in vielen Fußgängerzonen
- Der Anteil am Einzelhandel an Gesamtkaufkraft sinkt und sinkt - Geld geht woanders hin: zB. Wohnungsbaufertigstellungen, Renovierungen, Ausgaben für Reisen
- Außer Haus-Konsum
- Der Wohnort eines Konsumenten hat eine Auswirkung auf die Online-Affinität.
- In Städten ist sowohl die Online-Affinität, als auch das stationäres Angebot sehr hoch.
- Was soll der stationäre Handel tun?
- Muss stationärer Handel sich stärker im Online Handel engagieren?
- Die Verbindung beider Kanäle ist wichtig.
Markenbild und Einkaufserlebnis
Manuel Jahn beschreibt, dass Konsumenten nur selten bewusst zwischen stationär und online unterscheiden. Meist seien es praktische Erwägungen, die über die Art des Einkaufs bestimmen. Er kommentiert:
„Das hat Folgen für die moderne Expansionsplanung. Über die verschiedenen Vertriebskanäle hinweg muss einerseits ein einheitliches und stimmiges Markenbild vermittelt werden, andererseits darf der Konsument niemals in die Verlegenheit gebracht werden, sich überhaupt für oder gegen den stationären Handel zu entscheiden. DER KUNDE SOLL DEN KANAL GAR NICHT MERKEN! Vielmehr muss ihm der Handel situativ passend die Wahlfreiheit in Form von „sowohl als auch“ geben, um das maximale Kundenpotenzial erschließen zu können."FAZIT:Auch in Zeiten des Onlinebooms gibt es starke Vorzüge, die der stationäre Handel gegenüber Online hat und nutzen sollte:
- Story telling: Kunden gewinnen und einbinden
- Gekonnt präsentieren und glaubwürdig wertschätzen
- Weniger anbieten, aber engagierter
- Persönliche Kontakte: informieren und beraten mit gutem Personal
- Connectivity: in Verknüpfungen denken
Jahn empfiehlt Händlern, bei der Standortwahl unter anderem auf eine
gute Verkehrsanbindung und
Kopplungseffekte mit anderen Retailern zu achten und besonderen Fokus auf die
attraktive Gestaltung der Verkaufsflächen zu legen, so dass diese ein echtes Einkaufserlebnis schafft und das Gesamtmarkenimage stützt.
2. Praxisgespräch mit Claus Burchard (Policke) und Anna Alex (Outfittery) - ein Traditionsunternehmen (Herrenausstatter) wird einem Online-Versandhandel für Männerbekleidung gegenübergestelltClaus Burchard (58) ist Inhaber des Hamburger Herrenausstatters Policke. Burchard übernahm das 1931 gegründete Traditionshaus im Jahr 2000. Seitdem hat sich der Umsatz fast verdoppelt – und das ohne jeglichen Online-Handel. Policke beschäftigt knapp 70 Mitarbeiter, und alle sind darauf geschult, auf einen Blick Größe und Typ des Kunden einzuschätzen. Das ist wichtig, denn die Auswahl ist enorm: Über 8000 Anzüge in 80 verschiedenen Größen hängen dicht gedrängt auf den vier Etagen. In den vergangenen Jahren hat Burchard kräftig investiert: Neben dem Stammhaus gibt es nun auch Dependancen für Hemden, Strickwaren und Schuhe sowie den Trendshop fürs jüngere Publikum. Gerade ist Policke mit dem Norddeutschen Handelspreis des Einzelhandelsverbands Nord ausgezeichnet worden.
Man könnte
Outfittery einen Online-Versandhandel für Männerbekleidung nennen. Das wäre korrekt, aber nur ein Bruchteil dessen, was das Unternehmen tatsächlich ausmacht, das vor drei Jahren gegründet wurde und inzwischen mit gut 200 MitarbeiterInnen mehr als 200.000 KundInnen bedient. Was die drei Gründer tatsächlich umtrieb und ihr Unternehmen erfolgreich macht, erzählt die gebürtige Hamburgerin
Anna Alex (30), die ihre Karriere nach ihrem Studium in Freiburg und Paris zunächst bei Rocket Internet in Berlin startete, auf der Konferenz. In Zürich leitete Alex die IT eines Schweizer Onlineunternehmens, bevor sie sich ihren Traum vom eigenen Unternehmen erfüllte. Anna Alex ist Co-Gründerin und Geschäftsführerin und kümmert sich bei Outfittery vor allem um Produkt und Operations.
2.1 Policke ist ein seit über 80 Jahren gewachsenes Unternehmen und führt Marken, bei denen sie selbst den Preis bestimmen können. Die Kunden kommen wegen des Sortiments und der Tradition. Der Preis ist weiterhin ein wichtiges Argument. Die Kundenbindung geht über geschulte Verkäufer. Das
Einkaufserlebnis zählt. KundInnen kommen über Generationen ins Geschäft (vom ersten Konfirmationsanzug bis zum letzten Anzug im hohen Alter). Oft kommen Ehepaare. Herrenausstatter Burchard: Ein Ehepaar kommt in den Laden und sie sagt:
"Wir brauchen eine Hose“. Das
„Feel, Smell and Touch“ ist durch nichts zu ersetzen. Menschen wollen seit Jahrtausenden immer etwas berühren, etwas fühlen. Wenn der Handel dann noch einen entscheidenden Service bieten kann, wird immer eine Überlebenschance haben. Dabei spielt der Faktor Mensch eine große Rolle.
2.2 Outfittery ist ein Online-Versandhandel für Männerbekleidung und möchte Männer vom Shoppen befreien, quasi ein Unternehmen für den männlichen Shoppingmuffel. Der Kunde füllt zu Beginn einen Fragebogen aus und wird einer Stylisten zugeteilt.
- Alter Anfang/Mitte 30 Jahre.
- Der männliche Modemuffel ist loyal: Wenn einmal eine Lösung steht, bleibt er dabei.
- Outfittery hat einen Pop up-Store am Flughafen (Verbindung zwischen online und offline)
3. Das SEEDBOARD:Johannes Milla (54) brachte ein Stück Pappe mit. In seiner Stuttgarter Agentur Milla & Partner wurde das „Seedboard“ entwickelt, das tatsächlich nur aus Pappe ist, in der Kombination mit Hardware aber zum persönlichen Device wird. Auf der Expo in Mailand hat dieses Tool die BesucherInnen des Deutschen Pavillons begeistert: Hält man es in eine Projektion, lässt sich das Stück Karton als
mobiles Interaktionsfeld benutzen, auf dem individuelle Inhalte abgerufen werden können. Die Weiterentwicklung des Seedboards heißt
No Thing und steht dafür, wie sich ein analoges Erlebnis mit der digitalen Welt verbinden lässt.
"SeedBoard" bietet ein völlig neues, überraschendes
Ausstellungserlebnis, denn die Themen und Inhalte lassen sich damit ganz individuell entdecken. Im Handel ist eine besondere Inszenierung von Markenprodukten im Raum damit möglich, wobei sich die Investition für den Einzelhändler derzeit nicht lohnt (ab 70.000-80.000 Euro erhältlich). Der Herstellungswert der Pappe liegt unter 10 Cent. Die Intelligenz befindet sich im Raum. Das Seedboard wird in Projektionsstrahlen gehalten. Mit einem Projekt und einer Sensorik wird eine Individualisierung geschaffen. Das Seedboard hat die Funktionen einer App ohne eine App zu sein -
Analoge Welt wird mit digitaler Welt verbunden.
Vorgestellt wurde das Seedboard bei der EXPO in Mailand:Jede/r Besucher/in bekam sein persönliches „Seedboard“ in die Hand. Es ist das eigene „
Feld der Ideen“, ein innovatives und überraschendes Tool, das die BesucherInnen aktiv einbindet. Der einfache Karton wird zum ganz persönlichen Device. Völlig intuitiv zu bedienen. So simpel und einfach wie ein Buch: Aufklappen, in eine Projektion halten, und schon geht’s los. Die Projektion richtet sich nach dem Standort und der Größe des Betrachters, und sie folgt dem Betrachter. Man kann wie im Buch durch Kapitel blättern, bis zu drei Menschen gleichzeitig, jeder in seiner Sprache. Das Seedboard dient dem Besucher als
Projektionsfläche für Texte, Bilder, Filme und Spiele. Er kann damit Exponate starten und steuern. So wird der Pavillonbesuch zu einem ganz individuellen Abenteuer, das gleichzeitig faszinierende Technik aus Deutschland erlebbar macht.
Was braucht man: eine bestimmte Deckenhöhe, einen Projektor, Inhalte und ein starres Objekt.
4. Interview mit Jan Schawe (Mutterland), Andreas Schindler (Don Limón) und Heiko Schneider (HaarSchneider) – 3 unterschiedliche Erfolgsgeschichten:Jan Schawe: Als er vor 10 Jahren mit seinem Laden startete, verbarg sich hinter dem Begriff Feinkost möglichst Exotisches: Saucen aus den USA, Gebäck aus Frankreich, Wasser von den Fiji-Inseln. Jan Schawe (41) träumte statt dessen von einem Sortiment, das nicht erst um die halbe Welt transportiert werden musste und setzte auf Regionalität und Heimatverbundenheit. Mit
Mutterland schuf der Kommunikationswirt und ehemalige Gastronom nicht nur eine Ladenfläche mit Heimat-Motto – er wurde zum Vorreiter einer neuen Bewegung. Inzwischen unterhält Mutterland florierende Geschäfte, einen Online-Shop und einen eigenen Showroom. Weshalb Jan Schawe die Marke Deutsch und das Prädikat Manufaktur dennoch für gefährdet hält, erzählte er auf der Konferenz.
4.1. Mutterland: Die Produkte großer globaler Lebensmittelkonzerne, Marken mit irrwitzigen Transportwegen oder Industrie-Erzeugnisse mit künstlichen Aromen & Konservierungsstoffen findet man bei Mutterland nicht. Exotik war früher ein Qualitätsmerkmal. Es hat ein Umdenken stattgefunden und nun gibt es aber einen
Trend zur Regionalität. Mutterland bietet geschmackvolle Lebensmittel aus kleinen und mittelgroßen familiengeführten Manufakturen, die in überschaubaren Mengen hergestellt oder weiterverarbeitet werden. Von
handgerührten Slowfood-Marmeladen und schmackhaften Honigen, von feinen Schokoladen, handgefertigten Pralinen und altmodischen Bonbons bis zu Obstbränden von leidenschaftlichen Brennmeistern, eigener Tee- und Kaffeelinie und Milchprodukten vom Bio-Bauernhof bietet Mutterland die
gesamte Bandbreite heimischer Delikatessen & Nahrungsmittel an. Die Begegnung und Zusammenarbeit mit Lieferanten erfolgt auf Augenhöhe.
Bauern wie Manufakturen werden fair bezahlt und gefördert.Ein Problem stellt der
SCHUTZ der Produkte dar. Großkonzerne orientieren sich am Sortiment und kaufen Produkte auf. Diese können sie dann viel günstiger anbieten. KundInnen erwarten Exklusivität und möchten das Besondere finden, dies ist schwierig, wenn Produkte auch plötzlich bei Großkonzernen erscheinen. Mit 80% der Lieferanten gibt es daher Exklusivitätsvereinbarungen. Konzept von Mutterland funktioniert nicht über den Preis, sondern über die Exklusivität.
4.2. Don Limón- der Limettenkönig: Andreas Schindler (47) führt den Obstgroßhandel
Don Limón. Als er im Jahr 2000 in den Familienbetrieb einstieg, erwirtschaftete das 4-Mann-Unternehmen einen Umsatz von rund 3 Millionen Euro – und sah einer tristen Zukunft entgegen, denn mit den weltweiten Veränderungen der Handelsstrukturen brachen auch dem Hamburger Obsthändler die Geschäfte weg. Doch Schindler erfand sich neu. Heute ist der Familienbetrieb nicht nur größter Importeur für Limonen in Deutschland – als Händler, Im- und Exporteur bedient Schindler inzwischen die gesamte Lieferkette, beschäftigt gut 30 MitarbeiterInnen aus zwölf Nationen, betreibt Niederlassungen in China, Guatemala und Südafrika und setzt jährlich 30 Millionen Euro um. Dem Obsthändler Andreas Schindler waren die KundInnen abhanden gekommen.
Die
Pilz Schindler GmbH, 1952 vom Großvater gegründet, war ursprünglich ein Vier-Mann-Unternehmen, vertrieb Pilze und Spargel aus Polen und Litauen und Obst aus Südeuropa, hauptsächlich an regionale Gastronomen und Einzelhändler. Es war ein klassischer Betrieb auf dem Hamburger Großmarkt. Nun beschäftigt sein Unternehmen 30 Menschen, betreibt Büros in China, Guatemala und Südafrika, macht einen Jahresumsatz von rund 30 Millionen Euro.
Andreas Schindler wollte international arbeiten. Er beschäftigt Muttersprachler, um Sprach- und Kulturbarrieren zu überwinden. Die MitarbeiterInnen kennen sich sowohl mit den Märkten als auch mit den Menschen aus. Sein Betrieb ist das Gegenteil zu Betrieben, in denen der Chef alles in der Hand und unter Kontrolle hat. Dieses alte Geschäftsprinzip scheint ausgedient zu haben. Sich einfach auf den Großmarkt zu stellen und auf KundInnen zu warten, hat früher sehr gut funktioniert. Aber damit ist es vorbei.
Lange Zeit war der Obsthandel ein abgeschottetes Geschäft, und die Großmarkthändler hatten eine bequeme Position. Sie waren das wichtige Bindeglied zwischen Importeuren und dem Einzelhandel. Die Bezugsquellen beschränkten sich auf wenige Importeure, und allein mit dem lokalen Weiterverkauf konnte man gut sein Auskommen finden. Doch für dieses Geschäftsmodell existieren die Voraussetzungen nicht mehr und die Auswirkungen sind dramatisch. Es scheiden immer mehr Großhändler aus dem Markt aus. Auch aufgrund der zunehmenden globalen Vernetzung ist es heute kein Problem mehr,
Obst direkt von Erzeuger-Kooperativen zu beziehen.
Der klassische Großhändler wird schlichtweg ausgeschaltet.Beim Obsthandel gibt es überall unkalkulierbare Risiken. Der Kunde will aber sicher sein, dass er gute Ware bekommt, und zwar pünktlich. Das kann man nur garantieren, wenn man den gesamten Prozess versteht. Beim Obsthandel geht es längst nicht nur um den Preis. Es geht um Vertrauen, um Beziehungen. Ohne die kommt man nicht ins Geschäft. Kaum ein Geschäft wird mit schriftlichen Verträgen fixiert, es gilt das Wort, selbst bei Millionensummen.
Preise für Lieferanten werden erst nach dem Verkauf ihrer Ware verhandelt. Zudem handelt es sich um ein verderbliches Gut, es gibt keine festen Qualitätskriterien, weshalb willkürliche Reklamationen und Preisdruck vonseiten der Käufer üblich sind. Unsicherheit gibt es auch auf deren Seite:
Qualität und
Liefertreue hängen von derart vielen Faktoren ab, dass sie nur auf Zulieferer setzen, denen sie dieses komplexe Management wirklich zutrauen. Schindler löste sich von den Importeuren und bezieht nun sein Obst direkt von den Erzeugern. So kann er die Prozesskette kontrollieren.
Das Vertrauen von Lieferanten zu gewinnen ist sehr schwer.Zunächst scheiterte er immer wieder am spanischen Markt, und zwar nicht nur, weil er mäßig Spanisch spricht. Es sind die Feinheiten der Kommunikation, die er nicht beherrschte. Das merkte er erst, nachdem er zufällig einen Muttersprachler einstellte und dem die Verhandlungen überließ. Dieser machte alles anders. Er sprach kaum über Obst, sondern über die Familie, über Reisen. Und plötzlich klappte es. Geschäfte werden zwischen Menschen gemacht.
Seitdem stellte er Muttersprachler ein, etwa ausländische Studenten der Agrarwissenschaft. Sie öffnen ihm vormals fremde Märkte für Waren. Er lernte, wie die Abnehmermärkte funktionieren, begann mit kleinen Mengen, steigerte diese langsam und etablierte sich als verlässlicher Partner. Was ihn schließlich zu dem entscheidenden Schritt führte, langfristige Beziehungen direkt mit ausländischen Erzeugern zu suchen. 2007 entscheidet sich Schindler für Limetten. Er will Marktführer werden und entwickelt dafür die
Marke Don Limón.
Dies gelingt, weil ihn ein bolivianischer Mitarbeiter vorbereitete. Dieser telefonierte, machte die Kontakte, erstellte Reisepläne, erklärte ihm die Bedeutung des Tequilatrinkens und der Besuche historischer Ruinen. So fand Schindler einen Draht zu den Limettenbauern, gewann ihr Vertrauen. Und als er die ersten Testcontainer erfolgreich verkauft hatte, etablierte sich eine Geschäftsbeziehung, die dazu führte, dass Schindler heute pro Jahr rund 120 Container Limetten direkt aus Mexiko bezieht. Heute bezieht Schindler rund 30 Prozent seiner Zitrusfrüchte auf direktem Weg.
Das Konzept einer Firma, in der die MitarbeiterInnen zwar viele Dinge besser können als der Chef, aber vor allem nur dessen Ideen umsetzen, schien ihm noch nicht perfekt. So reifte in ihm die Idee, aus dem Unternehmen zu machen, was es heute ist. Schindler nennt es eine
„Plattform für Quasi-Chefs“, in der die MitarbeiterInnen die Entwicklung treiben, indem sie selbst entscheiden, was sinnvoll ist.
Schindler ließ sich etwa auf eine Idee eines bolivianischen Mitarbeiters ein, Paranüsse aus dessen Heimatland zu vertreiben. Es ist ein intransparenter Markt, kontrolliert von wenigen Importeuren. Direkter Zugang zu den Nüsse sammelnden Indios? Schindler selbst wäre da völlig chancenlos. Doch sein Mitarbeiter konnte sich mit ihnen verständigen, gewann ihr Vertrauen – und sie lieferten ihm Nüsse, die Schindler erfolgreich vermarktete.
Schindlers Job ist es eigentlich nur noch, die richtigen Leute zu finden und ihnen einen Platz zu bieten, an dem sie selbstbestimmt arbeiten können.Persönliche Kontakte, Kenntnis der Kultur – das ist es, was die Muttersprachler ihrem Chef bieten. Sie wiederum profitieren von einem Geschäftsmodell, bei dem sie sich fachlich weiterentwickeln können und eigenbestimmt handeln können.
Heiko Schneider: Als Heiko Schneider (47) 2004 seinen Friseursalon
„HaarSchneider“ eröffnete, hatte er zwei Mitarbeiter – heute sind es 28. Das wäre in jedem Fall eine schöne Erfolgsgeschichte, doch bei ihm kommt ein Standortfaktor hinzu: Der Salon befindet sich in Hoyerswerda, einer Kleinstadt mit 34.000 Einwohnern am östlichen Rand der Republik – in einer sehr strukturschwachen Gegend also. Für seine Arbeit hat Schneider viele Preise gewonnen, vom „Top Gründer im Handwerk“ 2006 bis zum „Top Salon des Jahres 2015“ in der Kategorie „Employer“. Doch im Alltag zählen die Details. Wie die persönliche Ansprache und die Facebook-Vernetzung, der große Event und die kleinen Begegnungen über Sein oder Nichtsein entscheiden, erzählte Heiko Schneider auf der brand eins Konferenz.
4.3 HaarSchneider: Sein Salon ist großzügig und hell, die großen Schaufenster zur Straße hin sind zwar transparent, ein breiter blickdichter Streifen auf dem Glas sorgt aber für Privatsphäre. Es sind viele Kleinigkeiten, die ihn zum besonderen Friseur machen. Es fängt mit den
Öffnungszeiten an, jeden Freitag bis 21:00 Uhr, jeden Samstag. Das war vor einigen Jahren in Hoyerswerda nicht üblich. Im Laufe der vergangenen Jahre ist der Salon gleichmäßig gewachsen. Alle wissen, die
Zufriedenheit der KundInnen ist oberstes Gebot für Heiko Schneider. Es geht um den „ganzen Menschen." Alle Mitarbeiterinnen werden regelmäßig weitergebildet. Zum einen sollen die Fertigkeiten und Schnitttechniken verbessert, zum anderen neue Stilrichtungen und Frisuren ausprobiert und getestet werden. Heiko Schneider verlangt
hohe Qualität, zugleich will er sein Personal auch motivieren. Der
Fachkräftemangel sei in Hoyerswerda in seiner Branche schon zu spüren. Er will seine Mitarbeiterinnen halten, also finanziert er rund zehn Seminare pro Jahr für mehrere tausend Euro. Teilweise werden hochkarätige Fachkräfte nach Hoyerswerda geholt oder Mitarbeiterinnen fahren nach London, Wien oder Düsseldorf – zu allem, was die große nationale und auch internationale Szene zu bieten hat. Nahezu alle Friseusen in seinem Salon sind gut ausgelastet. Schneider zahlt über Tarif. Ihm ist wichtig, dass die
Angestellten von ihren Löhnen leben können und eine Zukunft am Ort haben.Besonders wichtig war es ihm, Abläufe zu optimieren, so dass die Friseurin immer am Kunden bleiben kann.
Schwerpunkt II: Wie man Orte schafft und Bedürfnisse weckt
1. Impulsvortrag: Franz-Reinhard Habbel, Deutscher Städte- und GemeindebundFranz-Reinhard Habbel (65) ist Sprecher und Beigeordneter für politische Grundsatzfragen des Deutschen Städte- und Gemeindebundes (DStGB) in Berlin und zugleich Leiter des DStGB-Innovators Club, eines
Think-Tanks, in dem Führungskräfte aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft interdisziplinär an
strategischen Zukunftsthemen der Kommunen arbeiten. Im Habbel-Blog schreibt er über Politik und Kommunikation, auf der brandeins Konferenz berichtete er,
was die Schwächung des stationären Handels für die Städte bedeutet und wie Politik und Wirtschaft gemeinsam damit umgehen können.
Wie sehen unsere Orte in Zukunft aus, was passiert mit dem Handel, wie gehen wir mit Unsicherheit um?Die digitale Zukunft wird das Leben weiterhin stark beeinflussen. Die Städte werden dabei einen großen Einfluss haben. Städte und Handel müssen an einem Strang ziehen, um die Innenstädte langfristig attraktiv zu erhalten.
Eine Stadt ohne Einkauf ist tot. Es gibt nicht nur eine Landflut, sondern auch eine Digitalflucht.
Ohne Breitband und WLAN gibt es kein Leben im Dorf für junge Leute. Der zunehmende Online-Handel bedroht die Innenstädte. Insbesondere in den Bereichen Mode, Elektroartikel und Medien wird der stationäre Einzelhandel weiter an Bedeutung verlieren. Leere Schaufenster in unseren Innenstädten führen zu einer Abwärtsspirale, die Zentren verlieren an Attraktivität.
Dieser Entwicklung muss aktiv gegengesteuert werden, denn die Innenstadt ist das
„Gesicht einer Stadt“ und die Visitenkarte gegenüber BesucherInnen und Touristen. Sie steht für
Identität,
Kultur und
Lebensqualität und gewährleistet häufig
Wirtschaftskraft sowie Arbeitsplätze. Städte und Handel müssen an einem Strang ziehen, um die Innenstädte langfristig attraktiv zu erhalten.
Was können Städte tun? Wie kann man eine Stadt zukunftsfähig machen?Es sind nicht die Experten. Es ist die
soziale Intelligenz der Städte, die Zivilgesellschaft, Betriebe, Unternehmen und Wirtschaft, meint Habbel. Nach seinen Erkenntnissen wechseln 50 Prozent der Bevölkerung ihren Standort nicht. Die Stadt ist ein Netzwerk und stabiler Eckpfeiler. Habbel definiert Services in Städten wie folgt:
„S.M.A.R.T.“ S steht für „Sozialkapital, M für Menschen, A für Aufmerksamkeit, R für Respekt, T für Talente“. Nicht nur die Wettbewerbspolitik spielt für die Zukunft des stationären Fachhandels eine Rolle, auch die Infrastruktur muss stimmen. Städte müssen im Innenstadtbereich ausreichend Parkplätze für die Kunden bereithalten.
Folgende Punkte spielen eine Rolle
- Attraktivität der Innenstadt
- Ganzheitliche Konzepte: Erreichbarkeit, Wohnen und Arbeiten
- Schaffung von Begegnungsräumen
- Verkehrsgünstige Erreichbarkeit
- Kommunikatives Ambiente verstärken-> mehr Kommunikation, mehr soziale Netzwerke
- Freies WLAN in Städten
- Anpassung der Ladenschlusszeiten
- Optimierung und Vernetzung der Infrastruktur
- Kommunikativmachen von öffentlichen Räumen
- Hot-Spots der Begegnung
- Neue Verteilverfahren kreativ aufbauen
- Ausbau von zusätzlichen Services
- Mutige Politiker
Gestalterisch gelungene Einkaufsstraßen und Plätze mit
hoher Aufenthaltsqualität sowie gute Wegebeziehungen zwischen den Einzelhandelslagen können helfen, die Attraktivität zu erhöhen. Auch die Schaffung von
„grünen Ruheoasen“ ist wichtig. Ganz entscheidend ist zudem die Gewährleistung von Sicherheit und Sauberkeit, damit die Menschen sich in den Zentren wohlfühlen können. Die
Förderung des kulturellen Lebens sowie die
gute Erreichbarkeit speziell der Innenstädte durch den öffentlichen Nahverkehr sind weitere wichtige Aspekte. Immer häufiger stellen Städte und Gemeinden zudem interkommunal abgestimmte Einzelhandelskonzepte zur Sicherstellung der verbrauchernahen Versorgung auf.
Der stationäre Handel muss sich seinerseits klarer auf seine Stärken besinnen. Im Geschäft auf Kundschaft zu warten, reicht heute nicht mehr aus. Der Einkauf in der Innenstadt muss zum
„Erlebniseinkauf“ werden, der zum Beispiel durch Angebote zur Kinderbetreuung, durch Ruhe- und Kommunikationsräume oder durch ausgefallene
Verkaufsaktionen abgerundet wird. Zudem müssen der Service und die Kundenberatung weiter verbessert werden, denn kaum etwas wirkt stärker auf die Kundenbindung, als eine kompetente Beratung und ein
guter Vor-Ort-Service. Lokale Online-Marktplätze des Handels können ebenfalls helfen, dem Bedeutungsverlust der Innenstädte wirksam entgegenzutreten, denn es gilt:
Der Handel funktioniert nur mit, und nicht gegen das Internet!Online Handel kann mit stationärem Handel verknüpft werden (Online Interesse wecken-> Anprobe ins Geschäft verlegen).FAZIT: Der Fachhandel lebt und er wird weiterleben, wenn er die Herausforderungen der digitalen Revolution annimmt. Als Schlüssel zum Erfolg muss es Allianzen zwischen Forschung, Politik und Wirtschaft geben, um ein gemeinsames Ökosystem zu schaffen, das nicht nur mit dem digitalen Wandel mithalten, sondern diesen konstruktiv mitgestalten kann. Vor allem muss hier die
Gesellschaft als Nutzer/Konsument in den Fokus gerückt werden.
Point of Sale wird zum Point of Communication.Stationärer Handel muss auf Erlebnis statt auf Umsatz pro qm investieren.2. Interview mit Nicole Srock.Stanly Bikini BerlinNicole Srock.Stanley (46) ist Geschäftsführerin und Mitgründerin der Agentur dan pearlman Markenarchitektur GmbH mit Sitz in Berlin. Als Marken-, Retail-, und Freizeitexpertin beschäftigt sie sich u. a. mit der Frage, wie sich der stationäre Handel mit den Ansprüchen der modernen Freizeitindustrie verbinden lässt. Ein Thema, das auch im Zentrum der Neuausrichtung des Markenkonzepts der
Concept Shopping Mall BIKINI BERLIN steht, die von dan pearlman umgesetzt wird. Seit Februar 2015 ist Nicole Srock.Stanley auch Kreativdirektion von BIKINI BERLIN. Daneben berät sie innovative Start-Ups, ist Vorstandsmitglied des Kreativnetzwerkes Create Berlin e.V. und auch Vorstand der von der GEWOBAG initiierten Stiftung Berliner Leben.
Das Bikini Berlin versteht sich als
Anti Shopping Mall. Bikini Berlin ist ein Denkmalgeschützes Ensemble, wobei das Gebäude durch seine einmalige Architektur und den Mix unterschiedlicher, aufeinander abgestimmter Angebote besticht. Das was mal Mitte war soll das Bikini Berlin ausmachen. Es ist ein offenes Konzept, das noch atmet und Raum für Partizipation lässt. Seit der Eröffnung am 3. April 2014 hat sich das Bikini Berlin zu einem festen Bestandteil der Stadt sowie zu einer
beliebten Shoppingdestination etabliert.
Das Konzept ist einzigartig: eine sorgsame Zusammenstellung von Boutiquen, Concept- und Flagship-Stores. Anstatt Ableger großer Filialisten findet man hier
Retailer, die mit einem besonderen Konzept aufwarten und deren Großteil es in Berlin oder Deutschland zuvor noch nicht oder nur vereinzelt gab.
Die Concept Shopping Mall verfügt über Festmietflächen und die temporären BIKINI BERLIN BOXES.Die Bikini Berlin Boxes bieten kleinen Labels die Möglichkeit, ihre Ideen und Produkte in temporär mietbaren Pop-Up Stores zu präsentieren und Konzepte zu testen. Die BIKINI BERLIN BOXES sind flexible Modulsysteme aus Holz mit minimalistischem Design, welche sich nahezu jeder Bespielung anpassen können. Die Aufmerksamkeit der BesucherInnen wird auf das Wesentliche gelenkt:
Produkte und Ideen.Die BIKINI BERLIN BOXES können frei genutzt und individuell eingerichtet werden. Egal, ob ein temporärer Shop, ein Showroom oder ein Future Lab eröffnet werden soll – unsere BIKINI BERLIN BOXES können ganz nach individuellen Wünschen und Bedürfnissen eingesetzt und konfiguriert werden. Die BOXES gibt es mit 19, 24, 29 oder 34 Quadratmetern. Die Mietdauer beträgt 3 oder 6 Monate. So sorgen immer neue Projekte und Produkte für Bewegung und für einen stetigen Wandel im BIKINI BERLIN. BIKINI BERLIN bleibt so stetig überraschend, flexibel und bietet Raum für einen
spannenden Dialog.
Es gibt keine Showrooms im Bikini Berlin, denn die Leute sind enttäuscht, wenn sie nicht einkaufen können. Es gibt an die 45 Festmieter, 16 Box-Mieter und fünf temporäre Mieter in der Mall.
Täglich besuchen durchschnittlich 17.000 Besucher die Concept Shopping Mall, dabei sind die Samstage mit 25.000 BesucherInnen die am stärksten frequentierten Tage. Mehr als die Hälfte der BesucherInnen sind nationale und internationale Touristen.
3. Praxisbeitrag: Giannis Paraskevopoulos, Rocketspaces:Giannis Paraskevopoulos (26) gründete zusammen mit seinem Geschäftspartner Philip Schur die Rocket Spaces GmbH in Essen, eine Internet-Plattform für Pop-up-Stores. Die Idee kam den beiden, weil sie keine geeigneten Räume für den Test ihres ursprünglich geplanten Start-ups fanden. Das Konzept, leerstehende Verkaufsräume, Lagerhallen oder Friseursalons vorübergehend an Gründer, Künstler aber auch Konzerne zu vermieten, die Dinge ausprobieren wollen oder Räume für zeitlich begrenzte Projekte brauchen, hatte Giannis Paraskevopoulos bei einem Aufenthalt in Australien kennengelernt. Mittlerweile vermietet Rocket Spaces Flächen u.a. in Berlin, Hamburg, München, Düsseldorf, Leipzig und natürlich in der Heimat Essen – manchmal nur für einen einzigen Tag, oft für mehrere Monate.
Giannis Paraskevopoulos hat mit seinem Geschäftspartner Philip Schur einen
Online-Marktplatz für die Vermittlung von Pop Ups aufgebaut. Der Begriff Pop Up erzeugt momentan viel Aufmerksamkeit. Pop Ups sind flexibel. Ob nur einen Tag, eine Woche oder mehrere Monate nutzbar. Egal, ob in leerstehenden Verkaufsräumen, Lagerhallen, Friseursalons oder nur teilweise genutzten Räumen jeglicher Art, überall wo jemand ein wenig Platz hat, kann ein Pop Up-Store entstehen.
Warum und für wen Pop Up?Für Pop Upper stellt ein Pop Up erstmal eine Möglichkeit dar, mit geringem Risiko eine Idee zu erproben, Standorte zu testen, saisonbedingte Interessen zu bedienen oder das Geschäftsmodell (temporär) zu erweitern. Dies kann vor allem für Online-Händler interessant sein. Die zunehmende Anzahl von Online-Shops muss sich abgrenzen.Das geringe Risiko resultiert vor allem aus der individualisierten Mietdauer und den somit sehr überschaubaren Kosten.
Auch für Vermieter gibt es eine Reihe von Vorteilen und Argumenten, die für einen Pop Up in ihren Räumlichkeiten sprechen. Vor allem aber ist das Inserat an sich kostenlos und auch alle weiteren Leistungen, die folgen. Somit entstehen weder Aufwand noch Kosten, dennoch bietet sich die Möglichkeit zusätzliche Einnahmen zu generieren.
Generell bietet eine temporäre Vermietung gerade, aber nicht nur, bei Leerstand immer die Möglichkeit zusätzlich Geld zu verdienen. Selbst, wenn es auf Dauer ein langfristiger Mieter werden soll, kann in der Zwischenzeit mit einem Pop Up Geld verdient und vor allem der Raum promotet werden! Bei kleineren Städten bedarf es einer kuratierten Version von Pop Ups. Es soll den Leuten gezeigt werden, dass es sich lohnt, dorthin zu gehen. Langsam bröckelt der Widerstand bei Vermietern.
FAZIT:
- Pop Ups können ausgestorbene Läden beleben
- Pop Ups sind so gesehen ein Mittel zur Stadtentwicklung
4. Interview: Andreas Krüger, BeliusAndreas Krüger (50) hat als geschäftsführender Gesellschafter des Materialhandelsunternehmens Modulor seit 2007 die Entwicklungen am Kreuzberger Moritzplatz in Berlin mitinitiiert und begleitet. Dort entstand in kurzer Zeit ein viel beachtetes Innovationsquartier – heute mit Planet Modulor/Aufbau Haus, Prinzessinnengarten, BetaHaus oder Open Design City ein Aushängeschild zeitgemäßer Stadtentwicklung und neuer Arbeits-, Handels- und Produktionsformen. Der Kommunikationswissenschaftler bringt die gemachten Erfahrungen seitdem als Berater in die Fläche: Er unterstützt mit seinem Strategieunternehmen Belius Unternehmen, Social Entrepreneure, Kreative, Kulturschaffende, Immobilieneigentümer, Investoren sowie zivilgesellschaftliche Akteure, Politik und Verwaltung bei der Projekt- und Quartiersentwicklung. Und das europaweit.
Andreas Krüger erzählt, wie er den Moritzplatz in Berlin aufgewertet hat:Der Moritzplatz war historisch gesehen ein Handelsplatz. Dort befand sich das Wertheim Kaufhaus. Jahrzehntelang war der Moritzplatz vergessen, eine urbane Ödnis. Auch in den 20 Jahren nach dem Mauerfall lagen die Grundstücke brach, Gebrauchtwagenhändler und Flohhmärkte brachten kein Leben.
Andreas Krüger schilderte, wie es gelang, gemeinsam mit Privatinvestoren, Gewerbetreibenden, dem Senat und dem Bezirksamt die Grundidee von Leben, Arbeiten und öffentlich zugänglichen Nutzungen im Quartier wieder zu beleben. Krüger hat den Umbau eines riesigen Werkstattgebäudes aus den siebziger Jahren zum Aufbau Haus organisiert – man könnte ihn den inoffiziellen Kreativbürgermeister des Moritzplatzes nennen.
Das Aufbau Haus ist ein abwechslungsreiches
Einkaufs- und Gewerbezentrum. Es präsentiert auf mehr als 17.000 Quadratmetern eine einzigartige Mischung aus Handel, Handwerk, Verlag, Dienstleistungen sowie Kultur und sozialen Einrichtungen. Im Aufbau Haus befindet sich das
Kreativkaufhaus Modulor.
Modulor ist seit Jahrzehnten eine Anlaufstelle für Künstler und Architekten. Neben dem Modulor findet man 30 weitere kleine Läden wie z. B einen Nähmaschinenpark, Drucker, Innenausstatter, Tischler, einen Kindergarten auf dem Dach, aber auch den Club Prince Charles, eine Galerie und sogar ein Programmkino im Keller. Die Shops sind auf engstem Raum angelegt. Regale können mit Ware flexibel verschoben werden. In den Höfen rundherum findet man nicht nur Orte neuen Arbeitens wie das
Coworkingspace Betahaus oder die
Designwerkstatt Open City Lab, sondern einige der weltweit erfolgreichsten Kunst und Design-Netzwerke.
Sie sind längst zu erfolgreich, um noch "Startup" genannt zu werden. Andreas Krüger hat diese Gentrifizierung von unten in Gang gebracht. Er nennt es partizipative Gestaltung. Ausgangsüberlegung war von Beginn an, dass ein städtisches Quartier in dieser Größenordnung nicht mit einer Handelsart zu bespielen ist. Das Haus ist ein Organismus. Man findet dort Dinge, die man nie gesucht hätte. Das Aufbau Haus ist ein Beispiel dafür, dass
gelungene Liegenschaftspolitik in Berlin möglich ist.
Schwerpunkt III: Wie wir morgen gute Geschäfte machen
1. Impulsvortrag: Thomas Bendig, Fraunhofer VerbundThomas Bendig (43) ist Geschäftsführer des Fraunhofer-Verbunds IUK-Technologie, der mit 19 Fraunhofer-Instituten und insgesamt 6.000 MitarbeiterInnen innovative IT-Lösungen für nahezu alle Wirtschaftszweige entwickelt. Koordination, Strategieentwicklung und Technologietransfer bilden den Schwerpunkt seiner Tätigkeit an der Schnittstelle zwischen Forschung und Industrie. Er hat Informatik mit den Schwerpunkten Computergrafik und künstliche Intelligenz studiert. Schon Ende der neunziger Jahre beschäftigte er sich bei echtzeit Berlin mit
3D-Shops im Netz und virtuellen Charakteren als Berater und Verkäufer.
User Experience und
Einfachheit haben für ihn oberste Priorität bei der Entwicklung neuer Technologien.
Wird alles digitalisiert? Wie wird sich dadurch unsere Gesellschaft verändern?Thomas Bendig führt in die Möglichkeiten der Digitalisierung ein. Seine Prognose:
Alles wird digitalisiert.
Megatrends: Die Weltbevölkerung verändert sich, mehr Menschen leben in Städten, die Leute werden älter, das beeinflusst die Frage: wo leben meine Kundinnen? Zudem kommt, dass sich das Arbeitsleben stark verändert hat. Das Internet durchdringt alle Lebens- und Arbeitsbereiche. Die Generation Now wird später Kunde sein. Es gibt eine
ständige Verfügbarkeit von Informationsmitteln und die Entscheidungen werden immer kurzfristiger getroffen.
Die Digitalisierung der Industrie schreitet heftig voran. Individualisierte Produkte, weg von der Massenproduktion entstehen. Der Kunde erwartet, dass er auf den Entstehungsprozess Einfluss haben kann.
Der Kunde gehört in den Mittelpunkt jeder Entwicklung. In diesem Zusammenhang müssen die alten Geschäftsmodelle überdacht werden in dem Sinne: was kann digitale Technologie bei diesem Geschäftsmodell verändern?
Innovationen sind dann erfolgreich, wenn sie:
- Dem Benutzer einen Mehrwert bieten
- Dem Menschen das Leben vereinfachen
- Es ihm ermöglichen, erlernte Verhaltensmuster und Gewohnheiten beizubehalten
- Zeit sparen
- Kosten senken
IT Unternehmen und Start Ups drängen in neue Märkte.
- Vermittlung von Angebot und Nachfrage
- Veredlung
- Aufbau neuer Wertschöpfungsketten und Wertschöpfungsnetze
- Entstehung neuer Abhängigkeiten
Vom Geschäft zum Showroom:Screens helfen, um Produkte in Lebensgröße zu zeigen, Verbindung der analogen mit der digitalen Welt (3 D und Interactive Screens).
Interaktives Shopping Window, bei dem sich Leute Produkte von draußen anzeigen können ->mehr Kundenkontakt als bei statischen Schaufenstern. Intelligente Umgebungen reagieren auf die Bedürfnisse der Nutzerinnen.
Neben der
Augmented Reality wird sich auch das Konzept der
Augmented Identity durchsetzen, die unsere persönliche Identität um eine digitale Komponente erweitert. Sie speist sich aus unseren Daten im Netz, wie Communities oder dem digitalen Personalausweis. Um uns durch die Datenflut zu navigieren, gleicht sie persönliche Daten, Interessen und aktive Such- und Dienstanfragen mit der realen Umgebung und uns umgebenden smarten Objekten und anderen Akteuren ab.
„
Interactive TV" bietet neue inhaltsbezogene Werbeformen und Shopping-Möglichkeiten mit einem hohen Grad an Benutzungskomfort. Augmented Reality bietet zusätzliche Möglichkeiten der Produktpräsentation.
Virtual Mirror:Mit Augmented Reality-Technologien werden möglich:
- Mischung von realem und virtuellem Content
- Realistische Ad-hoc Konfiguratoren
Z.B. Gebäude, Inneneinrichtung
- Wechselnde Webeeinblendung in Echtbildern
- Realitätsnaher Internetverkauf
- Eventuell mit eigenem Avatar
- Kombination mit Personenerkennung
Eine spontane Kundenansprache wird ermöglicht durch:
- Wearables
- Beacons
- Indoor Lokalisierung
- Location based services
Die Digitalisierung des Einkaufens:Einkaufen =
Information (Informationsfluss)
+ Begutachtung/Vergleich
+Kaufentscheidung
+Warenfluss
+Geldfluss
Vorteile des Einkaufens im Shop:
- Haptischer Produktkontakt
- Neue Impulse
- Beratung, Soziale Interaktion
Anbieter hat die Chance auf:
- Inszenierung und Markenbildung
- Realer Kundenkontakt, Beratung
- Kundenbindung/Vertrauensbindung
Vorteile beim Online-Shopping:
- Bessere Informationslage
- Möglichkeit des Preisvergleichs
- Zeitunabhängig
- Artikelanlieferung
Anbieter hat die Chance auf:
- Detaillierte Produktkonfiguration
- Gezielte Zusatzangebote/Werbung
Vorteile des Mobile-Shoppings:
- Zeit- und Ortsunabhängig
- Artikelanlieferung
Anbieter hat die Chance auf:
- Profilbildung mit Geo-Referenz
- Gezielte Zusatzangebote
- Werbung vor Ort
Online, mobile und Einkaufen im Shop wachsen untrennbar zusammen. Die Grenzen verschwimmen zu einem
Omnichannel. Mischformen, die den Lebensgewohnheiten der KundInnen entgegenkommen, etablieren sich: im Laden einkaufen und nach Hause liefern lassen oder online die Einkaufsliste an den Supermarkt schicken und auf dem Heimweg den fertig gepackten Warenkorb abholen.
FAZIT: Online und Offline bedingen sich gegenseitig.WELTEN müssen sich annähren und verschmelzen:
- So kann der Kunde in jeder Situation optimal bedient werden
- Vorteile miteinander nutzen, Nachteile gegenseitig ausgleichen
- Ziel: Technologien verbinden die Welten
- think about lifestyle don´t think about Technology
2. Interview mit Sergio Mare, MigrosSergio Mare (41) leitet die Online-Kommunikation beim Migros-Genossenschafts-Bund, dem größten Schweizer Einzelhandelsunternehmen. Mit seinem Team hat er das Tool
„Migipedia“ entwickelt, eine Plattform, auf der KundInnen Produkte bewerten, testen, mitentwickeln und Wünsche äußern können. 2014 hatte die Website eine Million verschiedene BesucherInnen, die gut 90.000 Feedbacks gaben. Mit der Migipedia holt die Migros Ideen für neue Produkte in der Community ab, optimiert das vorhandene Angebot und
beobachtet Trends –
Crowdsourcing für Lebensmittel. Jede Bewertung, jede Idee, jeder Wunsch, aber auch jede Kritik findet den direkten Weg zur verantwortlichen Person innerhalb der Migros. Mittlerweile haben es über 60 neue Produkte in die Regale geschafft und einen Umsatz von 50 Millionen Franken erwirtschaftet.
Migipedia.ch – Der Kunde im Zentrum:Die Migros entwickelt zusammen mit ihren KundInnen auf der Kundenplattform Migipedia.ch neue Produkte. Ob Blévita Gruyère oder Candida-Zahnpasta mit Mojito-Geschmack, die von KundInnen entwickelten Produkte sind zum Teil sehr erfolgreich.
Auf Migipedia.ch können Migros-Kunden zu Produkten ihre
Meinung sagen,
Wünsche äußern,
Fragen stellen und
Produkte mitentwickeln.
Ideen werden in der Community abgeholt, Produkte optimiert, Trends beobachtet. Kommt etwa von Kunden der Vorschlag, fünf Stück in die Verpackung zu geben, dann bekommt das der Produkt Manager und sieht sich an, wie viele diesen Vorschlag positiv bewertet haben. Die Social Media-Kanäle begleiten den Kaufprozess - von der Awareness-Steigerung durch Angebote und Kampagnen bis zum Support.
Die Migros setzt konsequent auf
Kundenideen. Menschen möchten sich austauschen, auch digital. Es gibt eine neue Rolle des Konsumenten, KundInnen haben die Möglichkeit, sich zu beteiligen. Der Kunde ist ein Teil des Unternehmens, kann sich aktiv einbringen. Auf der Kundenplattform Migipedia können Migros-KundInnen nicht nur Produkte bewerten und diskutieren, sie gestalten das Migros-Sortiment aktiv mit.
Während einer so genannten
Crowdsourcing-Kampagne entwickeln Migros-Kunden Produktideen, degustieren und bewerten diese und entscheiden schließlich, welches Produkt den Weg ins Migros-Regal findet. Bisher haben Migros-KundInnen auf Migipedia.ch über ein Dutzend neue Produkte entwickelt.
Die Migros stellt einen großen Teil ihres Sortiments selber in der Schweiz her. Deshalb ist eine so enge Zusammenarbeit mit den KundInnen überhaupt möglich. Nicht nur die Produkte macht die Migros selbst, sondern auch die Konzeption und Umsetzung der Crowdsourcings erarbeiten Migros-Mitarbeitende. Ohne die Unterstützung von Agenturen.
Der Kunde steht im Zentrum, nicht die Kampagne.3. Praxisbeitrag von Tim Lagerpusch, Sugartrends, und Michael Volkmer, Kiezkaufhaus, erzählen von der Wichtigkeit lokaler Ladenvielfalt:Tim Lagerpusch (38) will online und offline zusammenbringen und hat vor zwei Jahren mit einem Partner die Firma
Sugartrends gegründet –
einen Marktplatz für „die schönsten Geschäfte der Welt“. Auf der Plattform stellen die beiden Wirtschaftsingenieure Produkte von Einzelhändlern vor, die sich keinen eigenen Online-Shop leisten können. 150 Läden aus 50 Städten weltweit sind inzwischen auf der Plattform vertreten, die Produkte reichen von Mode über Porzellan und Schmuck bis hin zu Möbeln und Kunstgegenständen. Tim Lagerpusch, der zuvor das Gründerzentrum CIE am Karlsruher Institut für Technologie aufbaute, ist überzeugt, dass lokale Boutiquen und globales Shopping zusammengehen – zum Wohle der Innenstädte, deren lokaler Charakter durch die Stärkung der Ladengeschäfte erhalten bleibt.
Michael Volkmer (49) stellt das Wiesbadener Projekt
Kiezkaufhaus vor, das seine Digitalagentur Scholz & Volkmer angeschoben hat. Das Kiezkaufhaus ist ein Online-Shop, auf dem lokale Einzelhändler ihre Produkte unter einem Dach anbieten. Angeschlossen ist ein E-Lastenfahrrad-Service, der die Einkäufe emissionsfrei noch am selben Tag zum Kunden fährt. Die Initiative verbindet so den Komfort des Online-Shoppings mit dem Wunsch, die unabhängigen Händler der Region zu unterstützen. Und es sorgt für korrekte Gewerbesteuereinnahmen der Stadt, die durch den Online-Handel vielfach verloren gehen. Aktuell ist das Kiezkaufhaus auf Wiesbaden beschränkt, es soll aber Vorbildcharakter für andere Städte haben.
Das Kiezkaufhaus und Sugartrends haben gemeinsame Ziele:
- Die Idee ist, die Online- und die Offline-Welt zusammen zu bringen
- Verknüpfung von lokalem und globalem Einkaufserlebnis
- den persönlichen Einkaufscharakter, den der Kunde im kleinen Einzelhandelsladen vorfindet, ins Online-Geschäft bringen
Die Website von Sugartrends ist ein Ergebnis von zahlreichen Reisen der Gründer Tim Lagerpusch und Christian Schwarzkopf. Auf ihren Touren haben die beiden lokale Läden kennengelernt. Diese präsentieren sie auf
www.SugarTrends.com.
Lokale, unabhängige Läden haben es schwer, im Wettbewerb mit den großen Ketten und reinen Online-Händlern online auch gut sichtbar zu sein.Das Hauptproblem einzelner Homepages und Online-Shops ist, heute angesichts millionenfacher Konkurrenz, im Netz aufgefunden zu werden. Der kleine Kölner Laden, der tolle Porzellan-Tassen oder Lederartikel anbietet, geht in der Masse unter. Hier hilft der Zusammenschluss vieler Anbieter. Denn gebündeltes Online-Marketing ermöglicht eine verbesserte Platzierung in der Auflistung großer Suchmaschinen (Google). Auf der Website kann man lokal verortete Geschäfte aus allen Ecken der Welt besuchen.
Bei Sugartrends können Besitzer kleiner Geschäfte in aller Welt eine Auswahl ihrer Produkte anbieten. Die KundInnen bekommen online, was sie möglicherweise auf ihrer Reise durch Asien entdeckt haben. Beim Verkauf bekommt Sugartrends eine Provision. Sugartrends will
Shops mit Boutique-Charakter unter einen Hut zu bringen. Die Läden werden persönlich vom Sugartrends-Team ausgewählt, um eine hohe Qualität, Originalität und den guten Service zu garantieren. Der Verbraucher kann bei Sugartrends digital durch lokale Läden flanieren und sich individuell beraten lassen – das Ganze online und trotzdem mit lokalem Gewissen.
FAZIT: Mit dem Einkaufen bei unabhängigen und lokalen Geschäften unterstützt man deren lokale Stadtteile. Vom ausgegebenen Geld bleibt wesentlich mehr in der lokalen Wirtschaft als bei den großen Ketten. Und so kann man mit seinem
Online-Einkauf zu florierenden Stadtteilen beitragen, auch wenn man exotische Produkte von sehr weit weg kauft.
Das Kiezkaufhaus – eine lokale Alternative zu herkömmlichen Versandhäusern:Das Konzept: Es handelt sich beim Kiezkaufhaus um ein lokales Internetportal von unabhängigen Läden, 24 Stunden erreichbar. Die KundInnen ordern online im Wiesbadener Einzelhandel, Fahrradkuriere sammeln mit ihren Cargo-Bikes die Bestellungen bei regionalen Händlern ein und liefern sie ab einem bestimmten Bestellwert kostenlos aus. Die Bequemlichkeit eines Onlineshops wird mit dem Aspekt des lokalen Einzelhandels und dessen Wertschätzung verbunden.
Alle Produkte können auf der Internetplattform ausgewählt und online bestellt werden. Die zweite Komponente vom Kiezkaufhaus ist ein Logistikunternehmen: Cargo-E-Bikes werden genutzt, die Fahrer sammeln die Waren beim Händler ein und liefern sie dann beim Endkunden aus. Wer bis 14 Uhr bestellt, kann seine Ware noch am gleichen Tag in Empfang nehmen. Für Unternehmer, die sich selbst keinen Lieferservice leisten können, kommt das Kiezkaufhaus wie gerufen. Das betrifft vor allem Kleinbetriebe, wie die Inhaberin des Biogeschäfts, die mit nur wenigen Angestellten einen Betrieb führt. Jetzt zahlt sie von jeder Bestellung zehn Prozent des Umsatzes an das Kiezkaufhaus. Das lohnt sich für die Unternehmerin, denn so sie Leute ansprechen, die sie sonst nicht erreichen würde.
- Die Wertschöpfung wird in der Stadt gehalten.
- Das Geld, das von den Kunden ausgegeben wird bleibt in der Region.
- Die Gewerbesteuer entfällt nicht im Gegenzug zum Onlinehandel
- Das Modell lässt sich unkompliziert auch auf andere Städte übertragen.